Erstnachweis und Beobachtungen zur Biologie des Filzkraut-Schildkäfers |
Text und Fotos © Tina Schulz, 2021 |
Ein warmer Frühsommertag, ein langer Streifzug durch die Natur. Wieder zuhause, sitzt auf einmal eine Raupe auf der Hose; ein blinder Passagier. Welcher Naturfreund kennt das nicht?
Auch über das Wunder eines per Substrat ungewollt eingeschleppten Insekts staunen wir bisweilen. Manchmal ist so ein Gast unwillkommen, etwa wenn er sich ungeniert über unsere
eigentliche Zucht hermacht und wir ihn erst spät festsetzen, um ihm die Leviten zu lesen und ihn anschließend hinauszukomplimentieren. Abb. 1: Mit Filzkraut in den Garten verschleppte halbwüchsige Larve von Cassida seladonia, entdeckt am 18. Juni 2019. Manchmal aber ist solch ein Zufallsfund erst der Auftakt zu etwas Größerem. Im Frühjahr 2019 bestückte ich ein Beet im Garten mit heimischen Pflanzen, die ich aus der Umgebung zusammensuchte. Darunter war auch ein Filzkraut (Filago minima): ein sehr zierliches, silbriges Gewächs mit unscheinbaren Blüten, das ich von einem Magerrasen mitten in Hannover (30 km entfernt) geholt hatte – einem für hiesige Verhältnisse sehr wertvollen Biotop, das ungeachtet dessen leider als größtes Hundeklo der Stadt missbraucht wird. Abb. 2: Erster Fund einer Imago von Cassida seladonia am 19. Juni 2019 in Hannover, auf stark befressenem Kleinem Filzkraut (Filago minima).
Am Abend des 18. Juni 2019 entdeckte ich daran eine Käferlarve (s. Abb. 1). Ihre typische, mit alten Hautresten und Kot beladene "Schwanzgabel" (bestehend aus zwei langen Dornfortsätzen) schützend über ihren Körper legend, wurde sie
von mir gleich als Schildkäfer (Cassida sp.) erkannt. Die anschließende Recherche brachte die für mich äußerst erstaunliche Erkenntnis, dass es sich um Cassida seladonia, den Filzkraut-Schildkäfer handeln müsse.
Eine eng oligophage Art vor allem an Filzkraut, weniger an Strohblume und Ruhrkraut, die bisher in Deutschland nur an sehr wenigen Stellen gefunden wurde und auf der Roten Liste auf Rang 1 steht, also "vom Aussterben bedroht"
ist [RHEINHEIMER & HASSLER, 2018]. Abb. 3: Fraßspuren von Cassida seladonia an Filago minima. Sichtbare Larven sind mit Pfeilen markiert. Abb. 4: Bemerkenswerte Tarnung der jungen Larven von Cassida seladonia, welche sich in Ruhephasen an der Basis der Wirtspflanze aufhalten.
Die extreme Nährstoff- und Kalkarmut und die schnelle Austrocknung des Erdreichs, die den Verbuschungsprozess stark entschleunigen,
lassen sich auch darauf zurückführen, dass es in der Vergangenheit nie Ackerbau gegeben hat. Als Bodentyp herrscht Podsol vor. Durch zeitweilig hoch ausstehendes Grundwasser, welches reich an Eisen und Aluminium ist,
findet unter der Oberfläche die Bildung von Raseneisenerz statt – abweichend von der sonst typischen Ausprägung des Podsol [LANDESHAUPTSTADT HANNOVER, 2001]. Charakteristische Pflanzenarten des Gebiets sind zum Beispiel
Sandbirke (Betula pendula), Kriech-Weide (Salix repens), Besenheide (Calluna vulgaris), Borstgras (Nardus stricta), Frühe Haferschmiele (Aira praecox), Kleiner Sauerampfer (Rumex acetosella),
Hunds-Veilchen (Viola canina), Heide-Nelke (Dianthus deltoides), Sand-Grasnelke (Armeria maritima ssp. elongata), Harzer Labkraut (Galium saxatile), Englischer Ginster (Genista anglica),
Sand-Strohblume (Helichrysum arenarium), Frühlings-Spörgel (Spergula morisonii), und eben das Kleine Filzkraut (Filago minima), die Wirtspflanze von Cassida seladonia. Abb. 5: Cassida-seladonia-Larven zunehmenden Alters. (a): Larve im ersten Stadium (L1), daran erkennbar, dass sie auf ihrer Schwanzgabel noch keine abgestreifte Haut trägt. (e): Aufgrund der fast gänzlichen Abwesenheit von Kot ist die Stapelung der Exuvien bei diesem Exemplar außergewöhnlich gut sichtbar. Es ist daher als L5 einzuordnen – frisch gehäutet, aufgrund des noch überproportional großen Kopfes. (f): Ausgewachsene, nun grüne Larve im letzten Stadium.
Zwei verpuppungsreife Larven setzten sich in meiner Zucht kopfabwärts am Blütenstängel beziehungsweise im Blütenstand fest und entledigten sich ihres Kotschildes (s. Abb. 6). Am 24. Juni
2019 hatte sich die Erste verpuppt, und am 30. Juni 2019 glitt der Käfer aus der Puppenhülle (s. Abb. 7). Das deckt sich recht gut mit der Angabe von RHEINHEIMER & HASSLER (2018), wonach die
neue Generation ab Juli/August schlüpfen soll. Abb. 6: Die letzten Schritte zum Käfer. (a): Ausgewachsene Larve; sie hält ihren Kotschild nicht mehr permanent schützend über sich. (b): Zur Verpuppung kopfunter festgesetzte Präpuppe; sie hat sich ihres Kotschilds bereits entledigt. (c): Kopfabwärts am Pflanzenstängel ruhende Puppe. Das letzte Larvenkleid, das während der Häutung zur Puppe am rückwärtigen Ende zusammengeschoben wurde, unterscheidet sich farblich von den ähnlich stachligen seitlichen Auswüchsen der Puppe. (d): Puppenexuvie, nachdem der Käfer geschlüpft ist. Abb. 7: Schlupf des adulten Käfers (die letzten Sekunden). Noch klaffen die Flügeldecken an der Spitze auseinander, aber nur sechs Minuten später hatten sie ihre endgültige Form angenommen (siehe Abb. 8b1). Abb. 8: Der Reifungsprozess. Die Bilder (a1) und (b1) zeigen einen frisch geschlüpften (immaturen) Cassida seladonia. Auf (a2) und (b2) ist die fertig ausgefärbte, reife Imago zu sehen.
Bei der Haltung der Tiere wurde versucht, die starke Sonnen- und Wärmeexposition ihres Habitats so gut wie möglich zu imitieren. In einen doppelt so hohen wie breiten transparenten
Plastikzylinder pflanzte ich Filzkraut auf Sand, deckte ihn für einen guten Luftaustausch mit grober Gaze ab und setzte ihn so fast ungeschützt den Elementen aus. Abb. 9: Im besten Alter. (a1) und (a2) zeigen einen makellosen Freilandfund vom 21. Juni 2019 (Hannover), (b) bildet ein gleichfalls wunderschönes Zuchttier vom 30. Juni 2019 ab. Nachdem ich die Inaktivität der Käfer eine Weile beobachtet hatte, entschloss ich mich, sie im Kühlschrank überwintern zu lassen – der hiesige eher von atlantischen Einflüssen geprägte Winter mit seinen starken Temperaturschwankungen vor allem an der südlichen Hausseite war mir zu unstet. Dazu setzte ich die Tiere in eine Plastik-Petrischale mit selten angefeuchtetem Küchentuch. Regelmäßig veränderten sie ihre Position im Gefäß, waren aber bei jeder Kontrolle immobil. Immer noch war keine flächige Rotfärbung zu erkennen. Nur ihr Grün wurde ein bisschen wärmer und es traten rötliche Flecken an den Schultern auf; auch die Flügeldecken- und Halsschildränder verbräunten etwas (s. Abb. 10). Abb. 10: Dieser "Alte", fotografiert am 31. Mai 2020 (a) bzw. am 17. Juni 2020 (b), hatte ein ganzes Jahr als Käfer überlebt: ich sah ihn am 7. Juli 2020 zum letzten Mal lebend.
Mitte April 2020 stellte ich fest, dass zwei der drei Käfer die Überwinterung nicht geschafft hatten; sofort setzte ich den Dritten ins Freie, an frisch eingetopftes Filzkraut. Der Überlebende – der nach einer Woche an der
frischen Luft wieder fraßaktiv wurde – dachte noch immer nicht im Geringsten an eine Änderung seines grünen Kleides hin zu durchgehend strahlendem Rot. Das blieb so bis zu seinem Tode – am 7. Juli 2020 habe ich ihn zum letzten
Mal lebend fotografiert. Beeindruckenderweise hat der Kleine also ein volles Jahr gelebt, was vielleicht auch dadurch begünstigt wurde, dass er sich nicht am anstrengenden Fortpflanzungsgeschäft aufreiben konnte, da er aufgrund von fehlender
nachwinterlicher Gesellschaft keine Gelegenheit dazu bekam. Abb. 11: An dieser Stelle auf der Kugelfangtrift (Hannover) wurden am 26. Mai 2020 nicht weniger als 27 Larven von Cassida seladonia gefunden.
Die meisten Larven saßen an der Basis der Pflanzen, die im Maximum 5 cm hoch waren. Zur Fundzeit (18–19 Uhr) waren einige mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt. Die meisten saßen inaktiv unten am Filzkraut-Stängel
und ließen sich gut durch das oben beschriebene Befallsbild aufstöbern – direkt an der geschädigten Pflanze oder in der Nähe. |
DankMein Dank gilt vor allem Dr. MICHAEL STERN von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover; er klopfte die Bestimmung am Beleg fest und schenkte mir seine Zeit für eine nette Exkursion ins Biotop. Auch dem übrigen kerbtier.de-Team sei gedankt für die vorsichtige Bestätigung meiner Bestimmung des ersten überraschenden Larvenfundes, von dem zu Beginn die Rede war. |
Literatur
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